Zu diesem BuchNichts ist so alt wie die Theatervorstellung von gestern Abend. Warum also über einen Theatermann schreiben, der zweiundzwanzig Jahre tot ist, dessen Arbeiten bis zu siebzig Jahre zurückliegen? Zunächst war es ja nur das Aufräumen eines Sohnes, der in der elterlichen Wohnung Photos findet, Kritiken, Interviews, alte Rollenbücher und viele, viele Zeichnungen. Doch plötzlich beginnt das Ordnen Spaß zu machen, das Interesse wächst, die Neugier wird zur Spurensuche. Ursprünglich hätte dieses Buch nur eine Werkliste der Regie- und Bühnenbilder meines Vaters werden sollen – es wurde aber zur Rekonstruktion seines Lebens. „Es ist das Höchste, was es gibt, großartiges Theater zu machen, das Jämmerlichste, wenn es schlecht ist“, so Gustav Manker am Ende seiner Lebens in einem Interview. „Theater ist ein nicht rekonstruierbares Ereignis, das nur für den einen Abend lebt, wo es gespielt wird. Alles andere ist nur eine kleine Reminiszenz, vor allem für die, die es gesehen haben. Die erinnern sich dann und sagen: Jaja, das war fabelhaft! Aber der, der nicht drinnen war, der sagt: Naja, das ist halt ein Photo, was ist denn das überhaupt für ein Schauspieler …?“ Genau das ist dieses Buch, eine Reminiszenz. Auf 560 Seiten, mit 877 Photos und 560 Premieren. Der Bogen spannt sich von 1913 bis 1988, darin liegen über fünfzig Jahre Theaterarbeit: 231 Inszenierungen, 355 Bühnenbilder, 52 Rollen. Das ist eine Menge für ein Leben. Gemessen an der heutigen Theaterpraxis ist es unvorstellbar. Der Schauspieler Fritz Muliar, der in den 60er Jahren unter Manker vom Kabarettisten zum Schauspieler reifte, meinte: „Manker war der einzige Renaissance-Mensch des Theaters.“ Gemeint ist der Universalist, der umfassend Gebildete, aber auch der Mensch voller Lebenskraft und ohne sittliche Hemmungen, der der Realität nicht ausweicht, sondern sie kennenlernen will, beharrlich fragend – und oft auch skeptisch. Der Autor Peter Turrini, den Gustav Manker Anfang der 70er Jahre fürs Theater entdeckte, witterte hinter dem gebildeten Humanisten aber auch den Borgia: „Manker war eine merkwürdige Mischung zwischen einem Repräsentanten des öffentlichen Theaters und einem Stierler und Aufmümpfer und Störer.“ Dies gilt vor allem für Mankers Direktionszeit Anfang der 70er Jahre, in der er sein Theater für das Neue, ja Radikale öffnete, ohne dass es seinem eigenen ästhetischen Credo entsprochen hätte: „Ich könnte das nie machen, aber es fasziniert mich“, gestand er Turrini im dunklen Zuschauerraum während einer Probe. Manker war ein Theaterdirektor, der mit „aufmüpfiger, wilder Lust“ sowohl im Spielplan als auch bei den Inszenierungen etwas zuließ, das oft das genaue Gegenteil dessen war, was er selbst ein Leben lang gemacht hatte. Er war so etwas wie ein Störenfried – der andere stören ließ oder der die Störerei zuließ. Turrini erinnert sich: „Er ist immer mit seiner Virginier-Zigarre wie ein Onkel dagesessen, aber hinter dieser ‚Veronkelung‘ muss sich ein aufmüpfiger Mensch befunden haben. Wir saßen öfter im Konversationszimmer zusammen, und da hat er immer gesagt: ‚Na, haben’s wieder was, womit Sie meine Abonnenten fertig machen können, haben’s schon was Neues, Peter?‘ Da hat er dann so glitzernde, diabolische Augen gekriegt und gekichert …“ Im Grunde seines Herzens war Manker ein Konservativer. Doch war ihm Ideologie am Theater zuwider, nie hat er die Arbeit seiner politischen Gesinnung Untertan gemacht. Eigentlich erstaunlich. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass jene Politiker, die Ende der 60er Jahre über seine Berufung zum Direktor zu entscheiden hatten, sich nicht im Geringsten daran gestört haben. Für sie – es waren Männer wie Anton Benya oder Bruno Kreisky – waren Mankers künstlerische Ansichten, war seine Arbeit ausschlaggebend. So etwas wäre heute, in Zeiten willfähriger Parteizugehörigkeit, nicht mehr möglich. Dieses Buch ist nicht gleichgewichtig. Es hat sich im Laufe der Arbeit herausgestellt, dass die Spurensuche dort am interessantesten ist, wo die Spuren blass und die Fakten spärlich sind, wo die Schritte also schon sehr weit zurückliegen. Besonderes Augenmerk wurde daher auf die Anfänge gelegt, als Manker als Bühnenbildner und Schauspieler seine Laufbahn begann. Niemand hat ihn mehr spielen sehen, wenngleich der letzte Auftritt seines Lebens ein schauspielerischer war: in Robert Quittas Film „Gespenster“ nach Henrik Ibsen spielt er 1987 den alten Kammerherrn Alving. Seine Ausbildung erhält Gustav Manker an Max Reinhardts Privatseminar in Schönbrunn, wo man in den 30er Jahren noch Schauspiel, Regie und Bühnenbild zugleich studieren konnte, noch dazu bei den namhaftesten Lehrern. In Bühnengestaltung waren das Alfred Roller, der große Revolutionär und Partner von Gustav Mahler, und der Architekt Oskar Strnad, die prägende Persönlichkeit der „Zweiten Wiener Moderne“. Das Studium bei diesen beiden Großen prägt den jungen Manker. Aus dieser Zeit stammen eine Reihe eindrucksvoller Bühnenbildzeichnungen, die unter dem Einfluss seiner Lehrer entstanden sind, und die das revolutionäre Umdenken in Bezug auf die Gestaltung der Theaterräume in diesen Jahren widerspiegeln. Max Reinhardt persönlich predigte seinen Schülern: „Wir sind alle leidenschaftliche Naturliebhaber, Menschenfresser, Feueranbeter. Raunzen Sie nicht über den Drill in der Kunst, über die Einschränkung der Genialität. Der wirklichen Natur kann nichts geschehen. Wer für seine Natur zittert, hat keine!“ Manker wird zu Reinhardts glühendem Fan. Und wenn dann noch das eigene Bühnenbild aus zwanzig Studenten von Reinhardt persönlich zur Realisierung ausgewählt wird, kennt das Glück natürlich keine Grenzen. Getrübt wird das Glück durch die Realität des „Ständestaates“, der österreichischen Ausformung des Faschismus, die das Land bereits geistig auf den Anschluß vorbereitet. Stark greift sie ins tägliche Leben ein, ist allgegenwärtig. Die Proben zu Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ am Salzburger Domplatz, wo Manker 1934 in der Tischgesellschaft mitwirkt, finden nach der Dollfuß-Ermordung in gespenstischer Atmosphäre und unter militärischer Bewachung statt: „Wir singen und tanzen da eigentlich zwischen Bajonetten und unter trauerbeflaggten Häusern!“. Auf Max Reinhardts Schloß werden Anschläge verübt, er selbst als „international herumzigeunernder Theaterjude“ bezeichnet. Mankers Seminarabschluss mündet 1935 in einen arbeitslosen Sommer, gefolgt von einem Herbst ohne Illusionen. Es beginnt der dornige Weg der Arbeitssuche. Wie der gesamte kulturelle Bereich ist auch das Theater in diesen Jahren von einer übergreifenden Krise geprägt, von fünfzehn Wiener Bühnen sind sieben geschlossen. 966 KünstlerInnen haben ein Engagement, aber über 1000 sind ohne Beschäftigung. Der 22 jährige Manker besucht München und Berlin, das in Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen steht. Ohne Chance auf ein Engagement. Und auch zu Hause, in Wien: nichts. Die ersten Arbeiten realisiert Manker daher an kleinen Wiener Avantgardebühnen, sowohl jüdischer als auch „arischer“ Prägung. 1935 wird in seinem Bühnenbild Ödön von Horváths Arbeitslosen-Ballade „Kasimir und Karoline“ im Kleinen Theater in der Praterstraße erstaufgeführt, damals „Wiens Broadway“ genannt, mit zahlreichen Theatern und vorwiegend jüdischer Klientel. Manch Wiener Theater proklamiert in dieser Zeit aber auch eine „bodenständige, von artfremden Einflüssen freie Bühne, um Angehörigen des arischen Schauspielerstandes wieder Möglichkeiten zu künstlerischem Aufstiege zu geben...“ Der historische Kontext ist bekannt, der persönliche jedoch nicht. Denn wie verhält sich eins zum anderen, wie gedeiht die Kunst in einer Zeit fortschreitender Radikalisierung? Das erste Jahresengagement führt Manker in die Provinz, ans deutschsprachige Theater im polnischen Bielitz. Es macht ihn dort mit der Situation der deutschsprachigen Minderheit und dem extremen Judenhass der Polen bekannt. Als Manker im Oktober 1937 zu Spielzeitbeginn nach Bielitz fährt, schreibt er seiner Mutter nach Hause: „Hier ist auch schon alles ruhig, nur zerbrochene Fenster sieht man in Menge.“ Dieser Satz hat mich stutzig gemacht und löste eine wochenlange Recherche aus. Es stellte sich heraus, dass es in Bielitz zu schweren antisemitischen Ausschreitungen gekommen war, zu einem „Pogrom nach Programm“, der bereits die „Reichskristallnacht“ ein Jahr später vorwegnahm. Dann der Glücksfall: Nach Provinzdasein und deprimierender Arbeitssuche das Engagement am Deutschen Volkstheater in Wien, dem mit 1900 Plätzen größten Theater deutscher Zunge. Der kulturelle Aderlass, der schon im Ständestaat seinen Anfang genommen hat, hinterlässt nach dem Anschluss Österreichs ein künstlerisches Vakuum – und Arbeitsplätze. Sogar die Eröffnungspremiere des ersten „Kraft durch Freude“-Theaters darf Gustav Manker, 25jährig, ausstatten – ironischerweise Schillers „Die Räuber“. Manker wird dem Volkstheater von da an über 40 Jahre treu bleiben, als Bühnenbildner, Regisseur, Ausstattungs- und Oberspielleiter und zuletzt auch als sein Direktor. Er wird an diesem Haus 206 Bühnenbilder entwerfen und 153 Stücke inszenieren, davon 47 im eigenen Bühnenbild. 1943 tritt er sogar einmal als Schauspieler auf. Ab jetzt beginnt Manker seine Arbeit genauestens zu dokumentieren. In zahllosen Photographien ist jedes seiner Bühnenbilder festgehalten, Szene für Szene, Bild für Bild. Dazu kommen künstlerisch bemerkenswerte Porträts von O. W. Fischer, Curd Jürgens, Paul Hubschmid, Gert Fröbe, Inge Konradi, Karl Skraup, Judith Holzmeister – sie alle waren damals am Deutschen Volkstheater in Wien engagiert. Wie auch Dorothea Neff, jene außergewöhnliche Frau, die in den Kriegsjahren eine Jüdin bei sich versteckt hielt. Aus dieser Zeit stammen die eindrucksvollen Zeichnungen Mankers, die der eigentliche Kern dieses Buches sind, und die bisher völlig unbekannt waren. Aus 360 Blättern wurden so viele wie möglich für dieses Buch ausgewählt. Darunter finden sich Entwürfe für die großen klassischen Dramen, aber auch Propagandastücke und Boulevard und auch schon die ersten Begegnungen mit Raimund und Nestroy. Manker entwirft Simultanräume für Schiller und transparente Feenwälder für Shakespeare, ungarische Wehrburgen für Grillparzer und mythische Bergwelten für Anzengruber, er definiert das katholisch-barocke Spanien als Operationssaal, kreiert Samurai-Tempel mit Götterstatuen und setzt erstmals in Wien die Bühnenschräge ein. In der ersten Saison entwirft Manker am Deutschen Volkstheater gleich noch 8 weitere Bühnenbilder – bis zur Schließung des Theaters 1944 werden es insgesamt 41 an diesem Haus sein, nebst elf weiteren für dessen Nebenspielstätten. Dazu kommen noch achtzehn Arbeiten für die Exl-Bühne, fünf für die Komödie in der Johannesgasse und je eine für das Bürgertheater, die Kammerspiele und das Renaissancetheater, das sind 78 Bühnenbilder in sieben Jahren ... Finanzielle Not und Materialknappheit fordern im Krieg bald künstlerische Beschränkung und lösen bei Manker einen stilistischen Wandel von Opulenz und Reichtum zu spartanischen, stilisierten Bühnenräumen aus. Dies markiert seine Wandlung zum Puristen, was den „Völkischen Beobachter“ sogleich skeptisch stimmt, da Manker „vom einfachen Beschauer eine Illusionskraft verlangt, dessen er kaum fähig ist“ und seine Bühnenbilder „das ostmärkische Empfinden etwas befremden“. Prägende Figur dieser Jahre wird für Manker der Regisseur Günther Haenel, der ihm Mentor ist und Freund, außerdem ist er Kommunist und ein subversives Element. Insgesamt 34 Inszenierungen wird Manker für Haenel ausstatten, darunter 1944 Ferdinand Raimunds „Der Diamant des Geisterkönigs“, in der die beiden das „Land der Wahrheit“ sarkastisch mit NS-Deutschland gleichsetzen und den Berliner Reichskanzleistil parodieren, mit Reichsadler und kleiner Siegessäule. Nach dem Krieg, als Haenel Direktor des Volkstheaters wird, folgen „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus und Julius Hays „Haben“, das mit einer Saalschlacht im Parkett des Volkstheater endet. Damit hält die Moderne Einzug in Mankers Theaterleben, war sie doch unter den beiden Diktaturen, der österreichischen und der deutschen, verboten. Viele Skandale charakterisieren das Theater der hysterisierten Nachkriegszeit: Das Publikum steht unter Strom, wenn ihm das Ungewohnte oder gar die jüngste Vergangenheit vor Augen geführt wird, hat es doch noch den direkten Draht zum Faschismus. 1948 protestiert man empört gegen die Erstaufführung von Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“: „Diesen Gespensterreigen von Halbtrotteln und Verbrechern ein Volksstück zu nennen, ist eine Anmaßung!“ und äußert sich deutlich über die zeitgenössische Kunst, die in den Wandelgängen des Volkstheaters ausgestellt ist: „Der Hitler hat doch recht gehabt!“ Jetzt tritt endlich auch der Regisseur Manker auf den Plan, nachdem er im Krieg bereits eine kleine Arbeit realisiert hat, und 1946, ebenfalls ermutigt von Günther Haenel, mit Ben Jonsons „Volpone“ seine Regielaufbahn einschlägt. Bald darauf ist Regisseur Manker auch sein eigener Bühnenbildner, erstmals 1948 bei Johann Nestroys Simultanposse „Zu ebener Erde und erster Stock“, dieser „monströsen Etagenordnung“ über arm und reich. Ihr endgültiges Zuhause findet die Moderne in Wien unter der Direktion von Leon Epp am Volkstheater, der das Haus von 1952 bis 1968 leitet. Manker hat bei ihm völlig freie Hand, seine eigenen Intentionen durchzusetzen, er wird zur idealen Ergänzung von Epp, der es ihm ermöglicht, an seiner Seite zum „zweiten ersten Mann“ zu werden. Gustav Manker wird Oberspielleiter und Ausstattungsleiter und der entscheidende Regisseur am Haus. Er inszeniert die neuen Stücke von John Osborne, Tennessee Williams, Eugene O‘Neill, Albert Camus, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch sowie einen Bahn brechenden Wedekind-Zyklus und lässt auch dem österreichischen Volksstück von Raimund, Nestroy und Anzengruber besondere Pflege angedeihen, wofür ihm mit Karl Skraup, Hugo Gottschlich, Fritz Muliar, Kurt Sowinetz, Hans Putz, Walter Kohut und Hilde Sochor ein unvergleichliches Ensemble zur Verfügung steht. Dabei liegt Mankers Stärke darin, alles Biedermeierlich-Gemütliche aus den Stücken zu eliminieren und sie frei von süßlicher Romantik und Kitsch auf die Bühne zu bringen, intellektuell zugespitzt und sehr sprachbetont. Sukzessive entwickelt Manker daraus seinen ganz persönlichen Stil, einen „Purismus“, der bis weit in die 70er Jahre dieses Genre prägen wird. Im Herbst 1959 markieren Friedrich Schillers „Die Räuber“ Mankers künstlerischen Zenit. Er führt das Werk auf einer Simultanbühne auf, die Schicksale der feindlichen Brüder laufen in dramatisch-filmischer Parallelmontage und in der Mannheimer Frühfassung ab. Der Schriftsteller Hans von Flesch-Brunningen schreibt seinem Cousin nach der triumphalen Premiere einen Brief, in dem er ihn ermutigt, Wien zu verlassen, „ins Herz der Dinge“ zu treten und ins Ausland zu gehen: „Ist es nicht die höchste Zeit, dass du an einem erwachsenen Theater und in einer erwachsenen Stadt ein großer Regisseur wirst?“ Manker bleibt in Wien. Es wächst seine Liebe zu Österreich, zur österreichischen Identität und ihrer Spiegelung auf dem Theater. Neben Schnitzlers Prosekturen, Raimunds Zaubermärchen und einer Grillparzer-Uraufführung inszeniert er Ferdinand Bruckner, Richard Billinger, Karl Schönherr – und natürlich Nestroy. Mit Helmut Qualtinger und Karl Paryla, mit Fritz Muliar, Kurt Sowinetz und Hans Putz und bald mit seinen „Nestroyanern“, jener eingeschworenen Truppe, die jahrzehntelang mit ihren Aufführungen Standards setzt: Heinz Petters, Walter Langer, Herbert Propst, Brigitte Swoboda und Hilde Sochor. Die Presse nennt sie „eine Schar entfesselter Komödianten“ und urteilt: „Dieses Ensemble ist unter diesem Regisseur mit diesem Dichter unschlagbar!“ Anfang 1963 beschließt Direktor Leon Epp mit „Mutter Courage und ihre Kinder“ den „Brecht-Boykott“ in Wien zu durchbrechen, der das Ergebnis einer antikommunistischen Kampagne ist, die Hans Weigel und Friedrich Torberg vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gegen Brecht führen, und betraut Manker mit der Inszenierung. Die „Blockade-brecherpremiere“ am 22. Februar 1963, für deren Absage dem Volkstheater sogar Geld geboten wird, und bei der zugleich der spätere Zadek-Protagonist Ulrich Wildgruber fürs Theater entdeckt wird, macht das Volkstheater zum „tapfersten Theater von Wien“. Ein Jahr später folgt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ mit Hilde Sochor und Fritz Muliar, das erste Stück, das der Autor dieses Buches, 6jährig, in seinem Leben gesehen hat. Ende der 60er Jahre wird Gustav Manker dann der Direktor des Volkstheaters, in der Zeit der Studentenunruhen und des kulturellen Aufbruchs unter Bundeskanzler Bruno Kreisky. Die Revolution findet in Österreich aber nicht auf der Straße statt, wie anderswo, sondern in der Kunst, -und am Theater ist es das Volkstheater, das hier die entscheidenden Schritte setzt. Die Entdeckung der neuen, jungen österreichischen Dramatiker gehört zu den Marksteinen von Mankers Direktionszeit. Bereits in der ersten Saison kommt Wolfgang Bauers „Change“ zur umjubelten Urauf-führung und Manker fordert den Autor sofort auf, auch weiterhin für das Volkstheater zu schreiben: „Johann Wolfgang, das ist ihr Weimar!“ 1971 folgt Peter Turrinis Erstling „Rozznjogd“, dann dessen „Sauschlachten“, „Der tollste Tag“ und „Die Wirtin“ und von Bauer „Silvester oder das Massaker im Hotel Sacher“. Manker entdeckt den späteren „Kottan“-Erfinder Helmut Zenker, er spielt den „Alpensaga“-Autor Wilhelm Pevny und Stücke von Harald Sommer, Helmut Korherr, Wilhelm Pellert und Gerhard Roth. Gleichzeitig besetzt Manker Helmut Qualtinger und Brigitte Swoboda als anarchistisch-rothaariges Außenseiterpaar in Nestroys „Der Talisman“ und zertrümmert damit die Wiener Sehgewohnheiten auf dieses Stück. In der Folge rehabilitiert er eine Reihe als unspielbar geltende Nestroy-Stücke und führt sie am Volkstheater zu wahren Triumphen. Nestroy wird bei Manker immer in der Originalfassung gespielt, die Diktion ist glasklar, es fehlt kein Ton und kein Strich, an der Sprache wird nicht herumexperimentiert. Sogar den bequemen Rückzug in den Wiener Dialekt lässt Manker nicht gelten, seine Anweisung an die Schauspieler lautet: „Redet’s so hochdeutsch wie’s nur geht, wir sind eh wienerisch genug.“ Nehmen Sie dieses Buch als Kulinarium. Wenngleich alle Fakten und Daten darin genauestens recherchiert wurden und es daher auch als Nachschlagewerk dienen kann, ist es dennoch ein Privatissimum, voll von Wertvollem und Sinnlosem, ergänzt durch Parerga und Paralipomena. Es soll für diejenigen, die noch erlebt haben, was darin zu sehen ist, eine Erinnerung sein, für die anderen eine Reise auf den Spuren einer vergangenen Zeit, über Gesichter und Emotionen, durch Stile und Strömungen, zu den Berühmten und Vergessenen. Denn was ist schöner als der Blick „hinter die Kulissen“? Vielleicht lässt sich aber auch Schillers berühmter Satz zur Eröffnung der Weimarer Schaubühne ein wenig Lügen strafen: „Schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr Preis, dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Wirklich nicht? Im Anhang finden Sie Zeugnisse von Wegbegleitern und Mitarbeitern, die hier ihre Erinnerungen an Gustav Manker und ihre Arbeit mit ihm preisgegeben haben: Karlheinz Hackl und Otto Schenk, Kitty Speiser und Brigitte Swoboda, Fritz Muliar, Michael Heltau, Heinz Petters, Ulrich Wildgruber, aber auch Wolfgang Bauer und Peter Turrini – und ein 21jähriger Regieassistent namens Luc Bondy. Ich habe meinen Dank ans Ende des Buches gestellt, zu zahlreich sind die Personen, die mir Auskunft gegeben, mir bei der Recherche und Zusammenstellung geholfen haben und Leihgeber der 877 fast zur Gänze unveröffentlichten Photos in diesem Buch sind. Ich habe darauf verzichtet, jedes einzelne Zitat zu indizieren, die Quellen sind im Anhang verzeichnet, ich habe verwendet, was ich für sinnvoll hielt. Zu unserer großen Überraschung und Freude war die erste Auflage dieses Buches nach nur drei Wochen ausverkauft. Ich sehe mich daher in der glücklichen Lage, eine zweite Auflage vorlegen zu können. Es haben einige Ergänzungen und Neuigkeiten darin Eingang gefunden, für deren Mitteilung ich allen Beteilgten danke. Herzlich zugedacht aber ist dieses Buch jenen Weggefährten und MitarbeiterInnen meines Vaters, die ich in den Sechziger und Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als „Volkstheater-Ensemble“ kennen und lieben gelernt habe, in jener schönen Zeit, die auch prägend für mein eigenes künstlerisches Empfinden gewesen ist. Wien, im Herbst 2010 Paulus Manker |